Goldrausch in Bozen by Rüth Burkhard

Goldrausch in Bozen by Rüth Burkhard

Autor:Rüth, Burkhard
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783863583033
Herausgeber: Emons
veröffentlicht: 2015-11-17T16:00:00+00:00


22

Sarnthein, Mittwoch, 25. April

Vincenzo schaute durch das Panoramafenster seiner Wohnung über die Landschaft in tausend Meter Höhe, wo der Frühling nach dem langen kalten Winter endlich einen späten Sieg feierte. Überall sprossen Schneeglöckchen und Krokusse aus dem Boden, in den Gärten der umliegenden Häuser auch Magnolien. Nach der gestrigen unfreiwilligen Rückkehr ins Eis genoss er den Anblick umso mehr. Während des Einsatzes war er abgelenkt gewesen, hatte keinen Gedanken an den Horror des vergangenen Herbstes verschwendet, doch als er abends mit einem leichten Sankt Magdalener ins Bett ging, er hatte sein altes Gewicht fast wieder erreicht und konnte sich ab und an ein Schlückchen Alkohol genehmigen, kam die Erinnerung wieder zurück. Plastisch stiegen die verstörenden Bilder vor seinem geistigen Auge auf. Er war aus dem Bett gesprungen, hatte den Fernseher eingeschaltet, der ansonsten zu den am wenigsten genutzten Technologien seines Alltags zählte, und hin und her gezappt. Ablenkung um jeden Preis. Das sinnentleerte Zappen zeigte die erhoffte Wirkung. Binnen weniger Minuten war er so müde geworden, dass er es gerade noch ins Bett geschafft und bis zum Klingeln des Weckers durchgeschlafen hatte.

Doch jetzt, mit einem Kaffee in der Hand, überfiel ihn erneut das diffuse Gefühl von Angst, die merkwürdig real wirkte. So als wäre es noch nicht vorbei. Als wollte das Gefühl Vincenzo nicht nur sagen, dass er sich sein Leben lang an den Horror erinnern würde, sondern ihn auch zusätzlich beschwören: »Du hast damals einen schweren Fehler gemacht, der sich rächen wird. Bist du bereit, dich dieser Herausforderung zu stellen, wenn es so weit ist? Bist du stark genug?«

Vielleicht waren es diese Erinnerung und die damit verbundenen Gefühle, die Vincenzo zum Abheben bewogen, als sein Festnetzanschluss klingelte und er Giannas Nummer erkannte. Die Bilder vom Eis, von einer traumatisierten und apathischen Gianna, der Gedanke an den Inhalt der menschenverachtenden Briefe, alles zusammen erzeugte automatisch etwas ähnlich einer verschwörerischen Nähe. Und für einen Moment waren sie verschwunden, die Bilder von dem fremden Mann in Giannas Wohnung. »Hallo, Gianna, ich habe gerade an dich gedacht.«

»Guten Morgen, Vincenzo. Was ist los mit dir? Du klingst so seltsam.«

Es wunderte ihn nicht, dass Gianna sofort spürte, dass etwas nicht stimmte. Sie war so facettenreich. Als Anwältin analytisch, konzentriert, durchsetzungsfähig, als Privatmensch gleichermaßen sensibel mit einem Gespür für die Stimmungen ihrer Mitmenschen. Und erst recht für die von Vincenzo, den sie schon lange kannte und von dem sie wusste, dass er kein Mensch war, der sich gut verstellen konnte. Er erzählte ihr von seinem Einsatz in den Bergen und davon, was die Erlebnisse im Eis und die damit verbundenen Erinnerungen abends mit ihm gemacht hatten.

»Ich verstehe dich gut, Vincenzo. Mir geht es immer noch fast jeden Tag so. Mein Therapeut redet mit Engelszungen auf mich ein, versucht mir klarzumachen, dass du und deine Polizeikollegen, dass ihr alles getan habt, um mich zu retten. Dass mein Entführer skrupellos und berechnend war und genau wusste, was er bei mir mit seinem Verhalten auslösen würde. Dass er nur das Ziel verfolgte, dir auf diese perfide Weise zu schaden. Intellektuell kann ich das verarbeiten, weiß vom Verstand her, dass er recht damit hat.



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